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Eugen Drewermanns Gesamtwerk

zusammengestellt von  Volker Brokop
 

Fortsetzung von  Seite 1



Inhalt:

   Aufzählung"Das Kabarett ist der letzte Ort des Widerstands"  -  Anläßlich eines Vortrags in Leipzig zum Thema "Taten der Liebe" in der  Leipziger Volkszeitung 
                                                                                       erschienenes Interview von Jürgen Kleindienst vom 1.03.2004

 
Aufzählung "Ein Weltgebäude ohne Architekt"  - Ursprünglich in der  "Neuen Zürcher Zeitung"  erschienener Artikel zur Evolution

 
Aufzählung "Interview zur Heiligenverehrung"  -  Ein von  Markus Hieber  geführtes Interview zur Heiligenverehrung der katholischen Kirche vom 22.04.1998 im
                                                                  Rahmen einer Übungsveranstaltung vom
Institut für Religionswissenschaften der FU Berlin mit dem Titel
                                                                  "Darstellende Religionswissenschaft - Herstellung eines Videodokumentationsfilms über Religion"

 
Aufzählung "Hat der Glaube Hoffnung"  -  Rezension des Buches von dem Philosoph und Schriftsteller  Michael Schmidt-Salomon


"Das Kabarett ist der letzte Ort des Widerstands"

Für die einen ist er ein Ketzer, für die anderen ein Prophet. Eugen Drewermann (63) ist der bekannteste und umstrittenste deutsche Theologe. Seit seiner Suspendierung vom Priesteramt arbeitet er als Therapeut und Schriftsteller. Wir sprachen mit dem überzeugten Pazifisten.

Frage: Sie wollen in Leipzig über "Taten der Liebe" sprechen. Hat sie eine Chance?

Was ich sehe ist, daß die Härte gewinnt. Vor allem diejenige, die sich die Machthaber selber verordnen. Die USA geben jedes Jahr über 400 Milliarden Dollar für Rüstung aus, kalkulieren Krieg als Instrument ihrer Machtausdehnung und -erhaltung überall auf Erden mit ein. Wir etablieren eine Konkurrenzgesellschaft, die im Grunde nur den Stärksten prämiert. All das sind Zwänge, die es mühsam erscheinen lassen, Menschlichkeit zu erwerben oder sich zu bewahren. Trotzdem glaube ich, daß Hass keine normale Regung des menschlichen Gefühlshaushaltes ist. Im Gegenteil: Hass ist die Antwort auf gekränkte und verletzte Liebe, ein Hilferuf.

Sie vermissen theologischen Widerstand ...

Ich bin entsetzt darüber, daß die Kirche zu all den Themen der wachsenden Gewalt im Grunde nur mit bedauernden Sprüchen antwortet. Wir sehen jetzt, daß Herr Schily die Asylgesetze auf seine Weise zu Ende abhandelt. Es geht jetzt nur noch darum, welche Leute uns in unserer Gesellschaft nützlich sind. Niemand wagt es, das ganze Wirtschaftssystem, die ganze Absurdität unserer so genannten Sicherheitspolitik in Frage zu stellen. Man sitzt am Krankenbett des deutschen Volkes, oder womöglich der Menschheit und betrachtet gerührt, wie der Patient von links nach rechts gelegt wird.

Sie sind schon lange unterwegs. Fühlen Sie sich einsam?

Absolut. Allerdings nicht in dem Sinne, daß ich nicht viele Leute wüßte, die ähnlich denken. Was unglaublich tauglich wäre, um resigniert zu sein, ist die blanke Erfolglosigkeit. Wir haben nicht einmal des Tempo der Entwicklung ins Desaster an irgendeinem Punkte stoppen können.

Wie leben Sie damit?

Ich habe den religiösen Hintergrund, der mir sagt, entscheidender als Erfolg zu haben, ist es, mit sich identisch zu bleiben und die paar Dinge zu tun, die man für richtig hält, egal, was dabei rumkommt. Aber ich gebe zu, ich lebte manchmal leichter, wenn ich sähe, daß das Richtige nicht erst nach der Katastrophe, sondern ein bißchen früher möglich wäre.

Wir leben in einer Ironiegesellschaft. Ist das schwer für Sie?

Ironie im Sinne Sokrates' wäre eine wunderbare Sache: Man hilft, den immanenten Spott in der Unstimmigkeit des Verhaltens und der Gedankenführung eines Mitmenschen aufzuzeigen, so daß es am Ende möglich wird, gemeinsam über Irrtümer zu lachen. Ein herzliches Lachen, das einlädt zur Gemeinsamkeit, ist etwas anderes als das Hohngelächter, das man dann auch noch vermarktet. Das ist eine Form der Grausamkeit, der Anmaßung und der erkalteten Gefühle. Ausnehmen würde ich von dieser Art der Ironie das deutsche Kabarett. Das scheint der letzte Ort des Widerstands zu sein.

Interview: Jürgen Kleindienst  -  © Leipziger Volkszeitung

Ich danke der  Leipziger Volkszeitung  für die freundliche Genehmigung, das Interview hier veröffentlichen zu dürfen.

 


Ein Weltgebäude ohne Architekt

Darwin, der Papst und die Rolle Gottes in der Evolution

Von Eugen Drewermann
 

Während die Behörden im amerikanischen Bundesstaat Kansas Darwin soeben aus den Schulstuben verbannt haben, ließ die römische Kurie kurz vorher verlauten, daß man die Evolution nicht mehr länger ablehne. Damit läßt sich jedoch die traditionelle Vorstellung eines Schöpfergottes nicht mehr länger aufrechterhalten. Die Theologie muss vollständig umdenken: Gott kann nicht mehr aus der Natur hergeleitet werden. Manch frommem Kirchgänger und wohl den meisten Theologen muss es scheinen, als sei es früher einmal sehr viel einfacher gewesen, an den Gott der Bibel zu glauben, als in unseren vermeintlich so „gottlosen“ Zeiten. Der Anschein trügt, doch ist er gut verständlich. Man geht im Frühling durch den Garten und fühlt sich wie betäubt vom Anblick und vom Duft der Blumen und der Bäume – was für ein Wunder ist das Leben, rätselhaft und derart komplex, daß es völlig unmöglich das Resultat des bloßen Zufalls sein kann; es muss ein Gott sein, der es so „gemacht“ hat! Unterstützt wird dieses „Argument“ von dem überholten mechanistischen Weltbild der Naturwissenschaften. Mit der Newtonschen Physik lassen sich die Bahnen der Planeten und der Fixsterne am Firmament erklären, den Gesetzen dieser Physik folgt die Bewegung aller toten Körper, doch das Leben verlangt offensichtlich nach einer eigenen Erklärung. Offenbart sich nicht in den von aller Mechanik so grundverschiedenen Erscheinungen des Lebens am allermeisten die Weisheit und die Güte und die Größe des göttlichen Schöpfers? Und dann erst der Mensch! Erfordert seine Existenz nicht erst recht den Gedanken eines besonderen Eingreifens Gottes in den Strom des Lebens? Daß es so einfach trotzdem nie war und nicht ist, an einen Schöpfer hinter der Schöpfung zu glauben, zeigte sich und zeigt sich an all dem Schrecklichen in der Welt. Arthur Schopenhauer hat es gesehen: Ein einziger Nachtfrost im Mai kann genügen, um das Meer von Blüten dahinzuraffen. Was ist das für eine Welt, in der ein Lebewesen sich nur erhält um den Preis der Verdrängung oder Vernichtung anderen Lebens? In der Erdbeben, Feuersbrünste und Seuchen ungerührt millionenfaches Elend über fühlende Wesen zu bringen vermögen? In der bereits Kinder verkrüppelt zur Welt kommen können und Krankheiten, Siechtum und Tod die steten Begleiter am Wegesrand sind? Hätte wirklich ein Gott diese Welt geplant, gewollt, gemacht und gestaltet – sie dürfte dieses Antlitz nicht tragen! Die Theologie vergangener Tage antwortete auf derartige Formen von Zweifel und Verzweiflung auf zweifache Weise: Der Teufel, erklärt die römische Kirchendogmatik bis heute, hat die Natur gegen den Willen ihres „Schöpfers“ durcheinandergebracht. Und: Der kleine Geist des Menschen ist zu gering, um die Planungen des Unendlichen begreifen zu können.

Darwin und der Papst
Man begreift, was Charles Darwin bedeutet, wohl so lange nicht, als man nonchalant, ganz wie beim Wechseln von Schuh oder Hemd, nun auch kirchlicherseits den Gläubigen mitteilen läßt, der derzeit regierende Papst anerkenne neuerdings auch die Evolution. Evolution ist eben nicht eine nur etwas andere, nur ein bißchen geschicktere Manier, in welcher der Schöpfer die Welt ja nun auch gemacht haben könnte, Evolution beschreibt ein methodisches Erkenntnisprinzip und ein objektives dynamisches Geschehen, das an jeder wissenschaftsrelevanten Stelle den dogmatisch verkündigten Gott der Kirche wie einen Nachtmahr bei Anbruch des Tages vertreibt.

Drei Stichworte mögen zum Beleg dieses Eindrucks hinreichend sein.

1. Von unten nach oben.
Noch hängt der Kirchenglauben, vor allem in römischer Sicht, an zwei wichtigen Vorgaben: Die Welt würde nicht existieren ohne den Willen einer allumfassenden Macht und Weisheit; mag auch das Leben sich in Jahrmilliarden entwickelt haben – immerhin die Tatsache der Welt ebenso wie die Einrichtung der Welt unterliegt nach kirchlicher Meinung dem ewigen Ratschluß der Gottheit. Und wie im Himmel, so auch auf Erden: Auch in der Kirche selbst liegt die „Wahrheit der Offenbarung Gottes“ in den Händen der sie hütenden Hierarchie; sie muss von außen und von oben gegeben werden; keinesfalls darf sie von unten, vom Volk etwa, ausgehen. Evolution bedeutet das genaue Gegenteil: Alles hat sich gestaltet, weil es keinen Aufseher gab, der von außen die Dinge in die richtige Bahn gelenkt hätte; vielmehr besteht der Gedanke Darwins gerade darin, alles Höhere auf das Niedere zurückzuführen und das Komplexere durch geringförmige Abwandlungen in riesigen Zeitmaßen aus dem weniger Komplexen abzuleiten. Es wird nicht geplant, es wird nicht eingegriffen, es wird von selbst!

2. Zwischen Zufall und Notwendigkeit.
In dieser Feststellung liegt, daß die entscheidende Alternative des theologischen Denkens im Abendland für falsch gelten muss: Zufall oder Planung, Materie oder Geist, blinde Kausalität oder göttliche Vorsehung... Der Gedanke der Evolution bietet eine Synthese zwischen diesen Gegensätzen, er bedeutet das Ende sowohl des mechanistischen wie des vitalistischen oder kreationistischen (schöpfungstheologischen) Denkens. Ein entscheidender Durchbruch in der Physik und der Biochemie der letzten Jahrzehnte besteht in der Einsicht, daß das Darwinsche Erklärungskonzept von Mutation und Selektion, von ungerichteten Zufallsschwankungen und der Auswahl des Tauglichsten, sich bereits auf die Geschehnisse in der unbelebten Welt anwenden läßt: Immer wieder führen synergetische Prozesse dazu, bei hohem Energiedurchfluß Systeme von Ordnung fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht zu bilden. Dissipative Strukturen, autokatalytische Zyklen, Boolsche Netzwerke – mit solchen Begriffen der Physik, der Biologie und der Mathematik gelingt es heute, Formen eines nicht-linearen Denkens auszubilden, in denen die Entstehung des Lebens unter geeigneten Voraussetzungen sich nicht länger als ein unbegreifbares „Wunder“, sondern als ein überaus wahrscheinliches Geschehen darstellt. Weder der reine Zufall noch irgendeine Planung helfen zur Erklärung, einzig ein angemessenes Verständnis dessen, was Evolution ist, hat uns die Augen für die Wirklichkeit geöffnet, der wir selber entstammen. Wohl sind wir noch immer nicht in der Lage, die Einzelschritte der Entstehung des Lebens vollständig und plausibel nachzuzeichnen, doch dürfte unsere derzeitige Kenntnis der Naturgesetze ausreichen, um sämtliche noch bestehende Teilprobleme passend in das sich abzeichnende Gesamtbild der Entwicklung des Lebens einzufügen.

3. Jenseits von Gut und Böse.
Wer von der Erwartung ausgeht, die das christliche Weltbild lehrt, der kann nur zutiefst verstört und empört sein über die Welt, wie sie ist: Kampf ums Dasein, Zufälle etwa im Aufbau des genetischen Codes, in der Bildung der Proteine oder im Aufbau der Zellen, das Gesetz vom Überleben der Fittesten, der Egoismus der Gene, Nahrungskette und Energiepyramide - mit solchen und vielen anderen Begriffen läßt eine Welt sich begreifen, in welcher ein biochemisches Gebilde zwischen belebter und unbelebter Materie, das HIV zum Beispiel, wichtiger, jedenfalls „erfolgreicher“ sein kann als der liebste Mensch an unserer Seite; in welcher Tod, Schmerz und Angst die nichtwegzudenkenden Begleiterscheinungen von Vielzelligkeit, Empfindsamkeit und Bewußtheit sind; in welcher kein anderes Gesetz zu regieren scheint, als mit allen Mitteln für die bestmögliche Verbreitung des Erbguts Sorge zu tragen; in welcher alle Ziele und Zwecke sich stets erst im nachhinein bilden, poststabilisiert, wenn es erst einmal weitergeht, niemals jedenfalls prästabilisiert – eine Welt, in der alles möglich ist, das Schönste wie das Häßlichste, das Größte wie das Gräßlichste, das Beste und das Böseste. Wie läßt sich
in einer solchen Welt ein Gott glauben?

Woran und warum wir glauben sollten
Seit den Tagen des jüdischen Philosophen Spinoza gibt es Versuche, Gott und Natur identisch zu setzen. Alle Theologie, die von der Welt her den Glauben an Gott zu begründen versucht, scheint heute dazu verurteilt zu sein, im Spinozismus oder Hegelianismus zu enden. Doch gerade deshalb ist sie außerstande, die Fragen zu beantworten, um derentwillen Religion wirklich nötig ist. Denn das Paradox, dem wir uns heute gegenübersehen, besteht gerade in dem Kontrast zwischen der Welt, die wir naturwissenschaftlich zu erklären vermögen, und der Bedürftigkeit der menschlichen Existenz. Wir säßen endgültig in der Falle, gäbe es nur die Natur, die uns umgibt.

Drei gute Gründe gibt es, die uns in Wahrheit dahin bestimmen, an einen persönlichen Gott zu glauben. Diese drei Gründe sind:

1. Subjektivität und Individualität.
Je höher Lebewesen sich entwickeln, desto deutlicher bilden sie eine Sphäre der Wirklichkeit, die sich nicht mehr von außen erklärend, sondern nur noch von innen verstehend beschreiben läßt. Um etwa zu wissen, was Gefühle sind, genügt es nicht, die chemischen Trägersubstanzen zu isolieren und ihre bioneurologische Wirkungsweise zu analysieren; was Angst, Schmerz oder Liebe in Wirklichkeit sind, läßt sich nur schildern aus dem subjektiven Erleben der betreffenden Lebewesen selbst. In der Natur mag das Individuum gleichgültig sein, in der Natur mögen Gefühle nur als Informationen oder als Reaktionsstimulanzien wichtig sein; doch wir Menschen erleben die Welt unserer Individualität und Subjektivität als etwas Einzigartiges und Eigenwertiges, mit dem weder ein Mensch noch ein Gott jemals so umgehen dürfte, wie die Natur jederzeit damit umgeht. Deshalb, nicht um die Natur zu erklären, sondern um als Menschen der Natur standzuhalten, setzen wir religiös ein absolutes Subjekt voraus, das die Subjekthaftigkeit unseres Daseins wie ein „Vater“ ermöglicht und trägt.

2. Freiheit.
Die Natur mag erklärbar sein durch ein Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit; doch alle Naturwissenschaften können stets nur bis zur Erklärung hin erklären. Mit dem wachsenden Spielraum der Freiheit ist etwas Neues entstanden, das, um Freiheit zu sein, in seinen Entscheidungen unerklärbar sein muss. Mit der Entdeckung der Freiheit verknüpft ist deshalb, wie Sören Kierkegaard wußte, der subjektive Reflex einer Angst, die sich im Raum der Natur niemals mehr beruhigen wird. Deshalb, nicht um unsere Überlegenheit gegenüber der Natur ideologisch weiter zu rechtfertigen, sondern um ein haltgebendes Gegenüber für die Haltlosigkeit unserer Existenz zu finden, stellen wir uns religiös eine absolute Freiheit vor, die den Weg unseres Lebens wie ein „Hirte“ begleitet und leitet, ohne uns unsere Verantwortung zu nehmen.

3. Schuld und Scheitern.
Das Leben, wie die Natur es hervorgebracht hat, vergibt keinen Fehler, und es verurteilt sofort zum Untergang, was nicht auf seine Weise erfolgreich ist. Wir Menschen aber wissen um die Unvermeidbarkeit von Irrtum und Mißlingen; wir können nur leben, wenn wir uns als entscheidenden Maßstab unseres Daseins einen „Richter“ vorstellen, der nicht hinrichtet, sondern aufrichtet. Und diese drei Vorstellungen, von dem „Vater“, dem „Hirten“ und dem „Richter“ sind es, die, als Bilder, denn auch im Rahmen der tradierten Trinitätstheologie die gesamte Spannweite der christlich vermittelten Gottesvorstellung umgreifen. Die moderne Evolutionstheorie verlangt im Grunde ein vollkommenes Umdenken der Theologie. All die „Gottesbeweise“, die von der Natur her Gott als oberste Ursache zu erweisen suchten, basieren erkennbar auf falschen Voraussetzungen. Nicht die Natur zu erklären, einzig das Rätselwesen Mensch zu begründen, bildet die Aufgabe und den möglichen Grund der Religion. An Gott zu glauben bedeutet als erstes eine Welt zu entwerfen, in der Angst überwindbar wird durch Vertrauen, in der die Person eines Einzelnen einen unvertauschbaren Wert in sich selber erhält und in der Schwächen nicht optimal ausgenutzt, sondern durch Hilfe und Beistand beantwortet werden. Und nun das Entscheidende: Erst wer von einer solchen Welt religiös fundierter Menschlichkeit ausgeht, wird die Welt der Natur als „Schöpfung“ eines persönlichen Gottes interpretieren können. Die Beziehung zwischen dem, was da Gott heißt, und der Welt, wie wir sie heute kennenlernen, läßt sich weder von einem fertigen Gottesbegriff noch von der Erfahrung her formulieren, sie bleibt im Dunkel. Doch verbleibt, was kein Geringerer als Augustinus als amare in Deo bezeichnete: Es ist möglich, sogar diese Welt zu lieben von Gott her. Nur das Umgekehrte scheint nicht länger mehr möglich: einen liebenden Gott als Ursprung einer darwinistisch gedeuteten Welt zu erkennen.

© Neue Zürcher Zeitung - 23.10.1999:
Eugen Drewermann, Theologe und Psychotherapeut, veröffentlichte 1998 unter dem Titel „Der sechste Tag – die Herkunft des Menschen und die Frage nach Gott“ eine umfangreiche Studie über die Herkunft des Menschen. Kürzlich erschien eine Studie zu dem Verhältnis von Biologie und Theologie, unter dem Titel "... und es geschah so – die moderne Biologie und die Frage nach Gott“. In beiden Arbeiten geht es um eine grundlegende Neuformulierung christlicher Schöpfungslehre. -
 

Ich danke der  Neuen Zürcher Zeitung  für die freundliche Genehmigung den Artikel hier veröffentlichen zu dürfen.
 

 


Interview zur Heiligenverehrung der Kirchen

Hieber: Kann man mit dem Wort "heilig" einen Menschen beschreiben und wenn ja, was macht die Heiligkeit eines Menschen aus?

Drewermann: Das Eigentümliche ist, daß Begriffe im Verlauf der Jahrhunderte sich fast bis zum Gegenteil ihrer ursprünglichen Bedeutung wandeln können im Gebrauch der Sprache einer Zeit. Mit "heilig" verbindet man immer noch so etwas wie die Ikone, eine Idealgestalt, die entsprechend bestimmten moralischen und vor allem kirchlichen Idealbildung als vollkommene Erfüllung der Menschen über die Jahrhunderte in der Funktion eines gültigen Vorbildes weitergereicht und gezeigt werden könnte. Stefan Zweig hat einmal geschrieben schon in den dreißiger Jahren in Einführung seiner Legenden und vor allem in seine Betrachtung über Marie Antoinette, wir brauchen nicht mehr diese Heiligen, diese Unfehlbaren. Wir suchen Menschen in ihren Schwächen, ihren Versuchbarkeiten in ihrer menschlichen Glaubwürdigkeit. Unter "heilig" würde man heute viel eher verstehen ein Mensch, der in sich selber ganz ist, in dem Sinn heil geworden ist. Das ist fast das Gegenstück zur moralischen und kircheninternen Perfektion. C. G. Jung hat einmal gesagt, es ist eine Wahl zu treffen, ob man den vollständigen oder den vollkommenen Menschen möchte. Die Heiligengestalten der Kirchengeschichte waren bisher vollkommene Menschen, Perfektionsideale. Worauf wir heute - am Ende des 20. Jh. nach über etwa 100 Jahren der Psychoanalyse warten, ist die Neubestimmung dessen, was menschlich erstrebenswert ist, und das wäre die Integration aller Kräfte, die Vollständigkeit der Person, die innere Glaubwürdigkeit und Übereinstimmung. Psychoanalytisch ausgedrückt: Ist es möglich, einen Heiligen der alten Schule zu definieren als eine Persönlichkeit, die völlig verschmolzen ist mit ihrem Über-Ich. Die seit Kindertagen darauf trainiert und dressiert wurde, sich nach dem Normenkorsett zu richten das gesellschaftlich und kirchlich vorgegeben war. Das eigene Leben ist fast erstickt, die Persönlichkeit, das eigene Ich, völlig verschmolzen mit dem Über-Ich. Wir wissen heute, daß das sehr gefährlich ist.

Die Heiligengestalten der Kirchengeschichte waren fähig zu Intoleranz, zu Fanatismus, zum Predigen von Religionskriegen, zu fast grausamer Strenge in den Ordensgründungen, waren identisch mit der völligen Unterwerfung der Menschen im Kadavergehorsam. Wörtlich nannte sich das so. Man hat Menschen beigebracht, daß die Meinung ihres Ordensoberen oder letztlich des Papstes in Rom der Wille Gottes selber sei. Man hat sie immer gelehrt, nach oben und nach außen zu hören, aber nie auf sich selber. Was wir heute möchten, ist eine entfaltete Persönlichkeit. Religion verstehen wir als eine Funktion nicht des Über-Ichs, sondern des Ichs. Und deswegen ist es viel wichtiger, den Heiligen dort zu suchen, wo ein Mensch sich integral entfaltet, wo er sich selber kennen lernt, wo er die Stimme wahrnimmt, die seine eigene Persönlichkeit meint und trägt, wo er die Worte freisetzt und spricht, die nur er einer ganzen Menschheit sagen kann. Dann ist nicht die Vermeidung von Versuchungen, sondern die Glaubwürdigkeit im Standhalten von Versuchungen das Wichtige. Nicht wie ein Mensch das Leben hinter Klostermauern vermieden hat, sondern wie er im Leben sich bewährt hat, das ist, was Stefan Zweig meinte mit diesem neuen Typ des Heiligen. Es kommt dann mit hinzu, daß die Integration des Es außerordentlich wichtig wird. Es ist nicht möglich, Menschen für erstrebenswert in ihrer Lebensführung zu erachten, die sich selber nie kennen gelernt haben, die von sich selber nie mehr wissen durften, als ihr Sozialsystem, die Kirche oder bestimmte Gruppierungen der Gesellschaft wissen wollten, die stromlinienförmig angepaßt waren. Was wir möchten, sind profilierte Charaktere, die das leben, was in ihnen gemeint ist. Insofern steht ein Mann wie Mahatma Gandhi, ein Nichtchrist oder doch Christ, als Hindu, in meinen Augen sehr viel eher im Verdacht, eine Heiligengestalt zu sein als zum Beispiel Mutter Theresa, die mit 12 Jahren in den Orden eintreten wollte, die ersten Wellen der Pubertät gleich fluchtähnlich abgewehrt hat und als Frau nie gelebt hat, aber als ideale Mutter existieren soll. Ich glaube nicht, daß viele Frauen mit einem solchen Ideal zu Rande kommen. Es stimmt irgendwo menschlich nicht, selbst wenn es karitativ überaus nützlich und irgendwo menschlich imposant ist, ohne Zweifel. Wir möchten, daß Menschen nicht nur etwas tun, daß an und für sich objektiv imposant ist, sondern das für sie subjektiv stimmt.

Hieber: Kann denn so ein gründliches und langjähriges Verfahren wie der Selig- und Heiligsprechungsprozeß wirklich über die Selig- oder Heiligkeit einer Person entscheiden?

Drewermann: Ich finde das eine ungeheuerliche Anmaßung der römischen Kirche, daß sie glaubt, befinden zu können, was die Stellung eines Menschen vor Gott ist. Die Heiligsprechung hat ja nicht nur gemeint, daß die Kirche von Rom erklären kann, welche Persönlichkeiten in ihrer eigenen Geschichte Nützliches getan haben für das System Kirche oder vielleicht auch für andere Menschen in und außerhalb der Kirche, sondern wie letztgültig ihre Stellung vor Gott sei. Die Heiligsprechung sollte behaupten, es gibt Persönlichkeiten, die sind ganz gewiß im Himmel und im Sinne der göttlichen Gerechtigkeit haben sie sogar eine ganz hohe Stellung der Belohnung im Himmel sich verdient. Und wie will die Kirche wissen, ein für allemal in alle Ewigkeit, was ein Mensch vor Gott wert war? Ich finde das ganz ungeheuerlich, denn das kann niemand wissen, weder von sich selber, geschweige denn von irgend jemand anders. Wir Menschen können nur mit Zagen und Zittern unter den Thron Gottes treten, und der einzige Maßstab wird die Liebe sein. Aber nicht die Machtenteignung durch das System Kirche, das am Ende sagt, dieses war ein Ketzer, den wir verbrennen, was Gott dann damit anfängt, wissen wir in diesem Falle nicht, aber was ein Heiliger war, das wissen wir - die Kirche - unbedingt. In Wirklichkeit hat die Kirche nie etwas anderes getan, die Kirche Roms meine ich, als daß sie ihre eigenen Schablonen zur Selbstbestätigung Menschen übergestülpt hat. Völlig richtig haben die Reformatoren gesagt, das geht zu weit, das kann man nicht machen, Gott entscheidet über Menschen, aber nicht irgendeine menschliche Institution, die sich an die Stelle Gottes setzt. Daß aber ein Verwaltungsapparat, der an der Stelle Christi als Stellvertreter Gottes und als Stellvertreter Jesu hier auf Erden im römischen Papsttum fungiert, hat natürlich die Möglichkeit wie Gott selber über Menschen zu richten und zu entscheiden. Das ist eine so unglaubliche Anmaßung, daß man nicht anders denken kann als das es kulturgeschichtlich ein letzter Relikt noch altorientalischer Form von Herrschaft, wo Könige nicht nur in Gottes Gnadentum sondern tatsächlich in Gottes Stellvertretertum auf Erden wandelten. Ein Tutanchamûn heißt aus dem Ägyptischen übersetzt ins Deutsche, das lebende Bild der Gottheit Amûn, man muss ergänzen, auf Erden. Wenn ein König das ist, wenn ein Papst das wird, dann freilich ist sein Urteil göttliches Urteil und dann kann er auch heilig sprechen oder er kann im Grunde auch verdammen. Ich halt das für eine historisch bedingte Form der Kulturgeschichte im alten Orient, die wir ein für allemal hinter uns bringen sollten.

Hieber: Das Wunder wird in der katholischen Kirche nicht nur als ein außerordentlicher Vorgang, sondern als ein Zeichen Gottes betrachtet. Was halten Sie von Wundern und meinen Sie, daß das Wunder ein notwendiges Kriterium für ein Heiligsprechungsverfahren sein sollte?

Drewermann: Wir sehen immer klarer, die Heiligsprechung selber setzt eine Kirche voraus, wie sie sich im Mittelalter verstanden hat. Der Papst ist der Ursprung aller Macht, weil er Gott selber vertritt auf Erden. Ich sage noch mal, wir sollten Gott selber überlassen, was er zu sagen und zu tun beliebt, dafür braucht er keinen Papst. Das nächste aber ist jetzt noch viel unwahrscheinlicher. Das mittelalterliche Weltbild ist in der Gegenwart noch insofern präsent, als eine Theologie darin besteht, immer wieder, entgegen den Naturwissenschaften, ein Weltbild zu lehren, daß wie ein Schweizer Käse durchlöchert ist für alle möglichen Chancen, die Gott hat, in den Weltenverlauf einzugreifen. Man muss die Kindlichkeit oder die fast unsinnige Naivität dieses Weltbildes vielleicht in einer Karikatur malen. Da sitzt Gott irgendwo im Himmel und er übersieht im Allgemeinen auch die Welt im ganzen, aber nun gibt es doch Anliegen, die Sie oder ich in einer Weise haben, daß Gott in die Gefahr käme, sie nicht richtig zu würdigen. Aber dabei können wir ihm helfen, wir können durch Gebete in ihn dringen, daß er doch unsere Anliegen auch beherzigt. Es gibt auch Heilige, die als Fürbitter fungieren können in dieser wichtigen Rolle. Jedenfalls ist es möglich, den sonst vielleicht ungnädigen oder auch ein bißchen verschlafenen Gott zu engagieren in den Dingen, die doch uns so nötig scheinen. Und dann kann es sogar dahin kommen, daß 2 mal 2 nicht 4 ist, daß die Naturgesetze nicht länger gelten, sondern wenn Gott es will, schießen auch die Besen, dann ist alles möglich. Die Allmacht Gottes nach dieser Vorstellung besteht darin, daß Gott tun kann wann er will, was er will und wie er will und wo er will. Dann sind Naturgesetze null und nichtig und sie gelten auch überhaupt nur, weil Gott es so gewollt hat und eben wenn er es anders will, kann er es auch anders machen. Das ist ein Wunder. Damit Menschen nun erwiesenermaßen heilig sind, steht Gott in der Pflicht, das auch zu zeigen. Wie sollte man es sonst wissen, die Nähe zu Gott ist schon das Wunder. Also ist ein Heiliger nur ausgewiesen, wenn Gott so gut ist, mal die Natur ein bißchen dahin zu bringen, daß sie Löcher läßt für ganz außerordentliche Erscheinungen, welche immer die jetzt sind, daß Leichname nicht verwesen oder daß Kranke geheilt werden beim Anblick des verstorbenen Heiligen oder daß er durchs Dorf schreitend mit seinem Schatten schon jemand von der Blindheit befreit hat oder irgend so. Das sind Texte, die auch im Neuen Testament zum Teil angeboten werden, die in der Antike eine große Rolle gespielt haben und die man auf falscher Weise, ganz sicher in blanker Unkenntnis der Psychosomatik und der Psychoneurotik auf wüste Art interpretiert hat, magisch im Grunde. Allein schon die Vorstellung, daß Wunder Mittel sind, göttliche Macht zu demonstrieren, sollte seit den Tagen des Kopernikus und Galilei, ganz sicher des Charles Darwin und des Einstein im 19. und 20. Jh. endgültig passé sein. Das sind mittelalterliche Vorstellungen. In Einzelfällen kommt die Kirche selber in Beweisnot. Beim heiligen Thomas, der ihr wirklich teuer und wert war seiner großen theologischen Summen wegen, den sie unbedingt heilig sprechen wollte, fehlte es aber an den erwiesenen Wundern, sie waren nicht da. Soweit ich weiß, hat man am Ende erklärt, der heilige Thomas hat so viele Wunder gewirkt, wie er theologische Artikel geschrieben hat. Dot miracula fecit, quod articula scripsit. Wenn es das ist, dann lasse ich mir Wunder gern gefallen, denn Intelligenz, menschliche Güte und Weisheit halte ich für wunderbar, aber dann sollte man den ganzen Spuk beerdigen.

Hieber: Wie erklären Sie sich psychologisch den Reliquienkult und das Gebet am Grab von Verstorbenen im Zusammenhang damit, daß nach theologischer Auffassung die
Seele bereits im Jenseits weilt?

Drewermann: Nach der katholischen Vorstellung besteht das Sterben eines Menschen darin, daß sich die Seele vom Körper trennt, dann ereignet sich ein persönliches Gericht, eben über die Seele des Verstorbenen. Sie muss aber warten bis zur Auferstehung des Leibes und in dieser Zwischenzeit kann sie eigentlich noch nicht ganz im Himmel sein. Es ist die Frage, wo sie sich jetzt befindet oder besser sollte man sagen, wie sie sich befindet. Jedenfalls muss man denken, ich sage nach katholischer Auffassung, daß aus dem Körper, der jetzt im Grabe liegt, noch irgend etwas wird - eben bei der Auferstehung der Toten am Jüngsten Tage. Weil das so ist, ist der Körper eines Heiligen selber
heilig, und er bereitet sich ja auf die vollkommene Vereinigung mit der schon heiliggesprochenen Seele vor. Von daher verdient auch der Körper als Reliquie Beachtung undin gewisser Weise große Verehrung, kann auch dienlich sein für Wundertaten, die davon ausgehen - ich skizziere dieses Weltbild nur, um zu zeigen, wie überholt es ist. Kein Mensch, der bei Verstand ist, wird sagen, daß dieser unser Körper irgendeine andere Zukunft hat als daß er zerfällt, chemisch und physikalisch bis zum letzten Gammaquant. Auf dieser Ebene kann keine Hoffnung sein, sondern der Naturkreislauf sorgt dafür, daß ziemlich rasch das, was die Natur zusammengefügt hat, auch wieder zerlegt wird. Womit wir es psychologisch zu tun haben, sind uralte Vorstellungen der Identifikation, sie sind wirklich Jahrhunderttausende alt, daß man die Macht, das Mana, einer fremden Persönlichkeit sich aneignet am Allerbesten durch Essen, kannibalistisch. Dann nimmt man den andern mit der ganzen Fülle seiner göttlichen Wirksamkeit in sich selber auf, man wird der andere. Das wäre am praktischsten. Wenn das aber nicht geht oder auch gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert ist, kann es ja doch ein Vorteil, von ihm etwas bei sich zu tragen, das ist auch gut und hat zu tun mit sehr kindlichen Formen des Umgangs auch im Alltag sonst, schon um sich besser zu erinnern an seine eigene Freundin oder den Freund trägt man ein Bild oder Amulett oder ein kleines Geschenk von ihm oder von ihr bei sich. Das beeinflußt psychisch tatsächlich ein Stückchen unser Wohlbefinden. In der magischen Form auch kann man denken, wenn ich von dem anderen körperlich irgendein Teil habe, eine Haarlocke oder einen Fingernagel oder sonst irgendwas, habe ich auch gewissermaßen Macht über ihn. So ist die alte magische Vorstellung, man eignet sich den andern an und kann jetzt manipulieren, wie die Wirkung seiner Persönlichkeit auf das eigene Leben ist. Man kann ihn nötigen zu lieben, was er eigentlich nicht lieben will oder man kann den Hass auf ihn übertragen oder abagieren. Man hat zu tun mit einem Rest von Voodookult im Grunde und man sollte nicht glauben, daß im 20. Jh. dieser Unfug immer noch Institutionalisiertermaßen statthat. Sie sehen in Neapel, daß z. B. am Festtag des heiligen San Gennaro sein Blut der Menge gezeigt wird. Das ist ganz erhebend dieses Schauspiel, weil es vorkommen mag, ein wirkliches Wunder, soll man denken, daß das Blut sich verflüssigt. Viele Tausende werden kommen, wenn der Kardinal von Neapel das Blut des heiligen San Gennaro aufstellt. Ich kann nur hoffen, daß in Italien der Chemieunterricht eines Tages so gut ist, daß auch werdende Kardinäle wissen, daß ein Gel bei bestimmten Schüttelungen und Aufwärmen dabei ist, sich zu verflüssigen. Solches Kunststück ist das nicht, wenn sie Tausende von Menschen haben, bei südländischen Temperaturen und ein Kardinal, der mit zittriger Hand die Reliquie bearbeitet, daß irgendwann ein Blutgel sich verflüssigt. Diese Sache wäre ziemlich einfach zu erklären. Aber dann wäre sie ja kein Wunder mehr. Man muss bei diesem Kult die Menschen systematisch verdummen und unterhalb der Bildungsschwelle halten, die in Mitteleuropa eigentlich für selbstverständlich gelten sollte. Die Kirche ist nicht nur mittelalterlich, sie ist auch fortschrittsfeindlich und sie nutzt ihre Macht durch das Mißverhältnis der Menschen zur Natur, die sie dann für Religion erklärt. Allein schon dieser ganzer Wunderspuk bringt die denkende heranwachsende Jugend entweder zum Aberglauben und reaktiv dann zum Unglauben. Das ist so nicht mehr glaubwürdig. Das ist das Problem dieser ganzen Art mit Gott umzugehen, den man verdinglicht, wenn man ihn zur Erfahrungsgröße von Reliquien erniedrigt. Man glaubt zu wenig, wenn man die Menschen anleitet, auf diese Art zu glauben. Andere Beispiele sind das Turiner Leichentuch, das jetzt gerade ausgestellt wird. Es ist nicht zu verstehen, wieso sich die wissenschaftliche Welt die Gründung eines Instituts zur Erforschung des Turiner Leichentuchs gefallen läßt, wenn der zuständige Kardinal nicht einmal erlaubt, daß man eine C14-Untersuchung an dem Ding vornehmen kann, weil die einzige Untersuchung, die man je vorgenommen hat, zu dem führt, was man blind hätte sagen können, 13. Jh., das ganze stammt nicht nur daher, es spielt auch immer noch im 13. Jh.

Hieber: Wie erklären Sie sich denn Extremhandlungen wie Askese  und den Empfang von Stigmata? Sind solche Extremhandlungen für Gläubige nachahmenswert?

Drewermann: Das Christentum, speziell die römische Kirche, hat aus vielen Gründen das Heilige immer identifiziert auch durch den Faktor der Triebabwehr, der Beherrschung der niederen Instinkte. Die Gestalt des Säulenheiligen, die vor allem im 4. Jahrhundert, 5. Jahrhundert in der frühen Kirche oder immerhin in der Kirche des Kaiser Konstantins grassiert hat, ist ein demonstrativer Versuch zu zeigen, daß der Mensch über der Natur steht. Das im Grunde wird sinnfällig durch die Position, die die Säulenheiligen annehmen. Sie stehen so weit außerhalb des Naturzusammenhangs, daß sie nur noch verbunden sind mit dem Himmel selber und alle irdischen menschlichen Bedürfnisse sind weit unter ihnen. Das wird sichtbar bei den Säulenheiligen. Es wird auch nach innen übernommen die Situation der Kampfzeit, der Märtyrerzeit. Offensichtlich ist in den ersten Jahrhunderten im christlichen Bewußtsein die Vorstellung gewachsen, daß man Christus um so näher ist, als man in sein Leiden eintritt. Und die Märtyrer werden dabei zu den Idealgestalten. Sie haben bis auf den Tod die Gleichförmigkeit mit Christus auf sich genommen. Wenn es so steht, ist das Leiden die ideale Form, Christ sein zu leben. Wenn es nun keine Verfolger mehr gibt seit Kaiser Konstantin, wird das Christentum zur Staatsreligion, ist es denn auch ab 381, beginnt es, das Heidentum mit Stumpf und Stiel auszurotten, Bibliotheken zu verbrennen, die Ungläubigen zu verfolgen mit denselben Mitteln, mit denen verfolgt wurde, es kehrt sich einfach die Perspektive um. Bleibt immer noch das Ideal des Leidens übrig. Da es von außen nicht verhängt wird, wenn man in Macht und Glorie lebt, wird es zum moralischen Ideal, es sich selber zu verfügen, so wie sie beim OpusDei heute noch, diesem faschistoiden
Kampfverband der römischen Kirche aus der Zeit des Franco-Faschismus, diese Praktiken haben, Bußgürtel z. B., man sticht sich ins eigene Fleisch, das ist sehr vorteilhaft für einen Menschen, der zeigen will, daß Glück und Sinnfreude für ihn nichts bedeuten. Da ist ein Mensch um so würdiger bei Gott als er als Asket sich niederringt. Ich muss noch mal auf den ersten Teil unseres Gesprächs zurückkommen, es ist die Frage, was wir für ein Ideal halten. Ist die Definition mit dem Über-lch das Ideal in sich selber? Die Verschmelzung des Menschen mit dem, was ihm von außen als Kind schon durch verinnerlichte Gewalt beigebracht wurde, dann ist die Unterdrückung der Persönlichkeit die Folge. Und sie kann gar nicht weit genug gehen. Je mehr jemand sich selber unterdrückt, je grausamer sein Gott wird, um so günstiger wird er dem Machtgebrauch derer, die über das Über-lch Menschen in ihre Verwaltung bekommen.

Das Über-lch ist identisch mit den Gruppennormen, mit den Zielsetzungen des Verbandes, das sich in diesen Idealen abbildet. Askese ist identisch in diesem Sinne mit der völligen Unterwerfung. Sie wird demonstriert subjektiv als Freiheit von den Triebbedürfnissen, ist aber gleichzeitig die Unterwerfung unter die Normen, die gestellt werden. Sie haben keine freien, sondern im Grunde sehr zwanghafte Persönlichkeiten vor sich. Und wir müssen sehen, daß sie ein hohes Maß an Sadismus in sich tragen und auch nach außen setzen. Die Grausamkeit der Selbstunterdrückung wird immer wieder weitergegeben auch nach außen. Sie haben Heilige wie Bernhard von Clairvaux, ein Magenneurotiker schlechterdings, ein Marienmystagoge großen Stils und gleichzeitig ein Kreuzzugsprediger mit wüstesten Hasstiraden. Es ist ja beides, der Selbsthaß, der zur Bedingung dafür wird, daß Gott die Persönlichkeit anerkennt und liebt und weitergegeben wird durch den Hass gegen all die, die Gott nicht in gleicher Weise lieben. Das gehört zur Psychostruktur dieser Neurotisierung des Religiösen. Schon deswegen möchte ich, daß wir mit psychologischer Sonde einmal schauen, was da verehrt wird, was da gepredigt wird, was in den heiligen Legenden immer noch spukt. Dann kommt hinzu, wir müssen gar nicht von Askese reden, daß der Diebstahl des Lebens immer noch für vorbildlich gilt. Nehmen wir Mutter Theresa, nichts gegen ihren persönlichen Lebensweg, aber wenn Frauen empfohlen wird, daß sie sollten gar nicht Frauen sein, sondern im Grunde von zwölfjährigen Mädchen zu Müttern werden, sich aufsparen 20 Jahre etwa oder 15 Jahre und dann in der Ehe als Mütter fungieren. Und bis dahin sollten sie keusch, rein, unerfahren, sehr auf Distanz zu der versucherischen Welt existieren, dann halten wir das Ideal der Madonna, einer Jungfrau, die Mutter wird und niemals eine Frau sein durfte. Das gilt immer noch für das katholische Ideal, die reine Askese, die Jungfrau zum Vorbilde die gleichzeitig Mutter ist. Wer diesen Widerspruch psychisch verinnerlicht, hat nie eine Chance, sich persönlich glücklich zu entfalten. Da ist Triebabwehr, Sexualfeindlichkeit, Leibfeindlichkeit, Selbstunterdrückung, endlose Schuldgefühle für ganz normale Regungen die Einkaufbedingung für diesen Wert. Es kommt dann hinzu, daß natürlich die Rückbildung auch auf die eigene Lebensform weitere Wirkungen hat. wir sehen, daß beim heiligen Franziskus zum Beispiel die Stigmata eine große Rolle spielen. Zur Entschuldigung der römischen Kirche muss ich sagen, sie hat an dieser Stelle allerdings Vorsicht walten lassen. Sie hat zum Beispiel den Fall der Theresa von Konnersreuth bis heute sich nicht entschließen können, eine Frau, die unter Stigmata Jesu, das heißt die Abbildung der Nagelmerkmale des Gekreuzigten, an ihrem Körper trug, als Evidenz der Heiligkeit ihrer Person zu werten. Und auch beim heiligen Franziskus hat das nicht diese große Rolle gespielt, die dem beigemessen wird in aller Regel. Wahrscheinlich ist die einfachste Erklärung für den Empfang von Stigmata in der hysterischen Psychodynamik der Identifikation gelegen. Es kommt immer wieder vor, daß Menschen, hysterische Charaktere, sich so weit verschmelzen mit einer Vorbildgestalt, mit der sie sich identifizieren, daß sie deren Lebensspuren übernehmen. Sie müssen sich vorstellen, daß ein talentierter Schauspieler natürlich imstande ist, sich vorzustellen, in welche Rolle er nun schlüpfen soll. Er stellt sich das wochenlang vor, ehe er mit dieser Rolle auf die Bühne tritt. Und wenn er beginnt, im Stück sein Part zu übernehmen, verschmilzt er mit dem, was er sich vorgestellt hat. Er hört für die drei Stunden der Aufführung auf, eine Privatperson zu sein. Er wird jetzt nur noch Shakespeares Jago, er wird so gemein, so verlogen, so seine Minderwertigkeitsgefühle, sein Hass heraussetzen, sein beleidigtes Ehrgefühl, daß er der Dämon wird, der er sein soll, er wird all diese Anteile hochspülen oder wird als Othello auftreten, als jemand, der es nur gut meint und der in seiner Gutmütigkeit von einer Falle in die nächste getrieben wird und viel zu spät erst merkt, wie böse man ihm mitspielt. Entscheidend wird, daß es möglich ist, daß die Differenz noch zwischen Person und Rolle zusammenbricht. Ein Schauspieler hat gelernt, daß er mit Gefühlen nie so weit identisch werden darf, daß er unkontrolliert in Tränen ausbricht, daß er sich am Boden windet vor Verzweiflung. Er arbeitet mit den Gefühlen, die er beherrscht, wie ein guter Reiter sein Pferd. Wenn aber der Unterschied verloren geht, daß man eine Rolle spielt, sondern wenn man die Rolle wird, bricht jede Abwehr zusammen. Psychosomatisch kann es dann sein, daß sich bis in die Körpermerkmale hinein das, was man sich vorgestellt hat, tatsächlich objektiviert. So sind die Stigmata zu erklären. Sie haben einen Teil der hysterischen Pathologie vor Augen, die in der Heiligengeschichte der katholischen Kirche allerdings sehr beliebt sein konnte. Man hat sich nie die Mühe gegeben, es zu verstehen; man sieht bis heute nicht die Notwendigkeit, die Psychoanalyse an die Sache ranzulassen; man interpretiert das auf dem primitivsten Niveau. Ein Wunder halt, wenn es der Kirche genehm wird.

Es kommen viele Dinge beim heiligen Franziskus hinzu, die eine zweifellos der größten Heiligengestalten der römischen Kirchengeschichte, der Kirchengeschichte des Abendlandes, mindestens psychologisch gebrochen erscheinen lassen. Ich erwähne nur den Hass gegen seinen Vater, der mir offenkundig scheint. Die Ambivalenz, mit der er erklärt auf dem Marktplatz, ab sofort sage ich nicht mehr Vater Bernadone, sondern Vater unser, der du bist im Himmel. Da wird er natürlich Gott, der gütige Gott, sagen, wird die Gestalt seiner Mutter eingesetzt gegen den Vater, der sie erniedrigt, mitunter schändet, dessen ganze Lebensführung den Idealen nicht entsprechen, die Franziskus bei seiner Mutter gelernt hat. Da wird der Familienkonflikt in voller Ambivalenz ausgedrückt, aber religiös hochgespielt. Franziskus wird aber seinen Vater nicht hassen, er wird den ganzen Ödipuskomplex verdrängen, wie es dazu gehört. Es wird derselbe Mann, der den Vater auf Erden haßt, den Vater im Himmel lieben und von dort die Liebe zu allen Menschen zurückholen. Es ist Franziskus niemals klar, worin die Aufregung eigentlich besteht, wenn er sich mit den Armen identifiziert. Nun kommt hinzu, daß diese Angst vor dem revolutionären Ansatz, der in seinen Gefühlen stecken könnte, bis zur totalen Unterwerfung geht. Die Geschichte erklärt, Franziskus sei von einem der mächtigsten und auch machtbesessensten Päpste der Kirchengeschichte, Innozenz III., vorgeladen worden, und der habe ihm gesagt, er solle im Schweinestall sich wälzen. Das hätte Franziskus getan und sei zurück gekommen. Innozenz habe dann gesagt, ein Mann, der mir so gehorsam ist, wird nie gefährlich sein. Es ist eine Legende, aber eine, ich glaube, ganz richtig empfundene oder erfundene. Franziskus hat diese Art Gehorsam, wie aus den benediktinischen Regeln allerdings zum Teil übernommen, zum Teil aber verschärft, den Menschen bis zu einem Gehorsam zu nötigen, daß er ist wie ein Leichnam. Da kommt der Kadavergehorsam her. Der Kadaver nämlich bewegt sich nie mehr eigenständig, sondern er muss getragen werden. So führt Franziskus wirklich aus. Er sieht demütig vor sich hin, er blickt nie auf, er hat keinen eigenen Willen, er tut gar nichts mehr. Wenn das das Gehorsamsideal ist, dann liegt die Wahrheit eines Menschen vor Gott ständig im Anderen, im Oberen, im Vorgesetzten, und die widerspiegeln die Gottesstellvertreterschaft durch. Die Wahrheit liegt nie im Menschen und das denke ich, ist der große Unterschied zwischen der Definition des Heiligen im Mittelalter und in der Neuzeit. Es ist der Grund, weswegen die reformatorische Theologie den ganzen Heiligenkult beseitigt hat. Es stimmt menschlich einfach nicht mehr, wenn deutlich wird, Glauben bedeutet, daß alle religiösen Inhalte durch die Passage des Subjekts existentiell und dann auch mit den Mitteln der Aufklärung durch die Vernunft gefiltert werden - und wir fügen hinzu heute - durch die Psychologie noch mal durchgearbeitet werden müssen. Das sind drei Schichten der Erfahrung seit der Neuzeit, die irgendwann einmal in Rom zur Korrektur des Gesamtsystems nach- und aufgearbeitet werden müssen.

Hieber: Welche Motivation haben Menschen, Heilige zu verehren?

Drewermann: Es gehört zum römischen System im Unterschied zum protestantischen, daß es ein System der priesterlichen Vermittlung ist. Es hat der Freud-Schüler Oskar Pfister, ich glaube um 1942 war es in seinem Buch "Das Christentum und die Angst", für spezifisch am Katholizismus erklärt, daß es Angst, die im menschlichen Leben liegt, nicht überwindet durch Vertrauen, durch Liebe, durch persönliche Begegnung, durch menschlichen Dialog, sondern durch ein immer größeres Angebot an Vermittlungsinstanzen. Mit einem Wort, die Differenz, der Abstand zwischen Gott und Mensch kann im römischen Denken gar nicht groß genug sein. Denn je größer der Abstand wird, desto mehr Vermittlungsinstanzen werden nötig. Man kann das in der Groteske gar nicht deutlich genug entwickeln. Jesus, nach allem, was wir von ihm wissen, wollte den Himmel auf die Erde bringen und den Menschen einen Gott ans Herz legen, ins Herz legen, der ein absolutes, unbedingtes Vertrauen verdient. Ein Gott, der die Menschen akzeptiert ohne Vorleistungen, der den Zerbrochenen nachgeht, der sie alle einlädt, gerade die Ausgestoßenen zuallererst. Jesus wollte, daß Menschen Gott nie mehr benützen, um Menschen von Menschen zu trennen, um sie einander auszugrenzen, um aus Gott einen Nationalgötzen oder einen Regionalgötzen des Judentums oder des Vatikans - würden wir heute sagen - zu machen, sondern daß Gott es regnen läßt über alle und die Sonne aufgehen läßt ohne Unterschied über Gerechte und Ungerechte, das alles war die Meinung Jesu - Menschlichkeit. Daraus geworden ist sehr geschwinde, daß Jesus als König interpretiert wurde, was er nie sein wollte, das war der Titel, unter dem man ihn gekreuzigt hat, aber das war nie der Anspruch, den er selbst gestellt hat. Jesus als Messias und König. Das wurde spätestens seit 313, seit den Tagen Konstantins, der Hintergrund der Ideologie der Kirchenfürsten, die selber königliche Würden haben können. Ist Jesus ein König, darf der Stellvertreter die Königswürde haben. Die Macht, die man ihm zusprach, war die Grundlage, auch Macht auf Erden zu beanspruchen, beides im Wechsel, wie im Himmel, so auf Erden.
Wenn wir schon so weit sind, wird Jesus sehr bald als der Christus, der Messias und der König ein Herrscher schrecklicher Gewalten, vor allem wird er zum Inbegriff des Jüngsten Gerichtes. Er kommt wieder, um Gericht zu halten über die Lebenden und die Toten und in seiner Macht liegt es nun, ob sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Jetzt wird die Frage, wie kann man einen Schritt weiter noch den Panthokrator, den Herrscher über den ganzen Kosmos, mit der Kleinheit der Menschen überhaupt noch in Verbindung bringen. Zur katholischen Erfahrung gehört eigentlich, daß Gott schon schrecklich war, so daß er ein Mittler brauchte. Das war sein Sohn, aber nun ist der Sohn auch schon ein Herrscher geworden, ist im Grunde unerreichbar. Besser deshalb im katholischen System, man hält sich an seine Mutter. Das ist immer gut, wenn die Männer schlimm sind, grausam, macht-besessen, Machos, dann sind die Mütter doch gütig und lieb. Auch das gehört zum Ödipuskomplex dieser ganzen Religionspsychologie. Die Mutter ist immer gut und der Vater immer gefährlich und darunter die Gläubigen ewige Kinder. Die Sache könnte in Ordnung gehen, man hätte die Mutter, die setzt sich hin zu ihrem Sohn und erklärt ihm, was der tun soll, damit es der Vater tut. Das ganze ist noch ein Stück überschaubar. Unglücklicherweise ist auch die Mutter Gottes, wie es ihr zusteht, zu einer Madonna geworden, einer Himmelskönigin. Auch sie trägt jetzt zu ihren Füßen die ganze Welt im Grunde, sie ist aufgefahren zum Himmel, ist ebenfalls eine Königin und deshalb schwer erreichbar. Zwar hat sie noch einen Schutzmantel, es gibt viele Wallfahrtsorte, zu denen man am besten geht, nach Kevelaer, nach Neviges hier in der Gegend, nach Werl schon genügt vielleicht für den Frauenverein, da ist die Mutter Gottes besonders zugänglich und sie wirkt auch. Manchmal erscheint sie in Bäumen wie in Fatima oder in Berggrotten, wie in Lourdes, sie spendet dann segensreiches Wasser, das den Kranken hilft. Dies alles noch in Ehren. Auch kann man bestimmte Gebete an sie richten, der Rosenkranz verleiht Ablässe usw. Das alles genügt aber nicht, man hat im Himmel jetzt die Dreifaltigkeit und die Mutter Gottes. Aber unterhalb dieser Granden sozusagen, braucht man einen ganzen Hofstaat und der ist auch gegeben. Es gibt 9 Chöre der Engel, einer Charge größer als die andere, Michael hat sich hervorgetan als er den Teufel besiegt hat und in die Hölle gestoßen hat, der ist auch als Patron der Deutschen Streitmächte noch im Ersten und im Zweiten Weltkrieg geglaubt worden, es gab den Michaelsorden. Aber ganz gut Kirschen essen ist mit ihm auch nicht. Besser ist der Schutzengel z. B., der ist sehr persönlich, sehr privat, geht als ständiger Begleiter und Fürsorger mit. Es ist kein ganz strenges Dogma, aber doch in der kirchlichen Lehre allgemeines Lehrgut, daß es so was gibt. Den Schutzengel sieht man aber nicht, man kennt ihn eigentlich auch nicht, er hat keine Biographie, er ist ewig und geistig, besser deshalb man hat einen menschlichen Fürbitter. Der kennt sich wirklich aus in den Sorgen der Menschen, wie es die Mutter Gottes täte, wenn die nicht schon so entrückt wäre. Und da fungieren jetzt die Heiligen. Da gibt es 14 Nothelfer z. B., die für alle Anlässe gut sind. Wenn sie den Autoschlüssel verloren haben, empfehle ich den Hl. Antonius z. B. Und so gegen Feuer und gegen alle möglichen Gefährnisse des Lebens fungieren die Nothelfer. Dann kommen noch die Namenspatronen hinzu. Das alles wohlgemerkt spielt sich nur im Himmel ab und das alles erheischt das Abbild jetzt auf Erden. Auch da geht es wieder von oben nach unten, den Papst, der die Unfehlbarkeit der Kirche verkörpert und auch alle Gnadenmittel, dann setzt er die Bischöfe ein, die setzen wieder die Priester ein. So hierarchisch gegliedert, repräsentiert sich die römische Kirche dann auf Erden als Abbild des Himmels. Sie kommen nur über eine riesige Brücke von ständigen Vermittlern in die Gunst, am Ende mit Gott zu tun zu kriegen. Sie können nur beim katholischen Priester beichten und die Lossprechung empfangen, nur der römische Priester kann gültig das Abendmahl feiern. Die Nähe des Christus geht hervor nur aus seiner Hand, was ein protestantischer Pastor tut, ist da alles null und nichtig. Und nur die katholische Kirche hat auch diesen ganzen Heerbann der Heiligen. Es läuft darauf hinaus, daß man den Menschen so viel Angst machen muss, damit man diesen Riesenbrückenbogen zur Angstverarbeitung als notwendig erweisen kann. Es ist genau das Gegenstück von dem, was Jesus wollte, mit einem fast kindlichen Vertrauen erwachsen zu werden in Gott und den ganzen Spuk nicht zu benötigen. Man kann sagen, dies alles macht aus dem, was Jesus wollte, das Gegenteil seiner besten Absichten. Deswegen hat die protestantische Kirche, hat ihre reformatorische Theologie sich bis heute geweigert, eine Heiligenverehrung zu akzeptieren. Es gibt natürlich vorbildliche Menschen, es gibt aufrüttelnde Charaktere, es gibt wunderbare Beispiele, wie Glauben wirksam sein kann, Martin Luther an der Spitze wohlmöglich. Aber er war nie ein Heiliger, und es soll niemand sich zwischen Gott und den Menschen stellen, kein Fürst, kein Heiliger, kein Papst. Das denke ich, ist die Religion, die sich mit Geist und Aufklärung vertragen kann.

Hieber: Neben einiger Übereinstimmungen der Weltreligionen, wie z. B. bei der Heiligenverehrung, scheint es mir, daß es einige unüberwindliche Gegensätze zwischen den Weltreligionen gibt. Wie kann man eine monotheistische Religion wie das Christentum mit einer polytheistischen Religion wie dem Hinduismus vereinbaren? Und wie läßt sich das Christentum mit dem Buddhismus vereinbaren, in der es keine Gottesvorstellung gibt?

Drewermann: Hm. Man kann religionsgeschichtlich ganz sicher die Meinung vertreten, daß der Heiligenkult der römischen Kirche den Polytheismus des Heidentums übernommen hat und nur umetikettiert hat. Also, wenn die griechische Religion alle möglichen Götter und Göttinnen hatte für alle Zwecke des praktischen Lebens, wird dieses ganze System des Olymps einfach ersetzt und bestimmten Heiligen zugewiesen, die ebenfalls am Thron des Allerhöchsten fungieren als seine Helfer und Mittler. Insofern ist der Heiligenkult ganz sicherlich ein Rest, ein Relikt des Polytheismus. Dagegen ist religionspsychologisch nicht unbedingt etwas zu sagen, wenn damit die Aufforderung einherginge, die Vielzahl von seelischen Anliegen in einer Person zu integrieren. Ich glaube, man kann religionsgeschichtlich und religionspsychologisch die These aufstellen, daß der Monotheismus parallel geht mit der Vereinheitlichung des menschlichen Bewußtsein. Solange viele Götter sind, die sich wohlmöglich bekämpfen, ist der Himmel der Widerschein auch einer in sich zerrissenen Seele. Der Monotheismus Israels ist eine kulturelle Schwelle in dem Sinne, daß zum ersten Mal der Mensch in voller Verantwortung in seine Geschichte einrückt. Als Gegenüber eines Gottes, der selber ein einziger ist, soll der Mensch als eine Person, die frei ist, die volle Verantwortung für ihr Leben und für ihre Zeit übernehmen. Das im Wechsel. Da allerdings ist ein Riesenunterschied zu aller anderen Religion, auch der Grund, weswegen das Alte Testament eine wirklich revolutionäre Religion gewesen ist, das prophetische Pathos, polemisch und aggressiv gegenüber aller anderen bisherigen mythischen Religionsformen aufgetreten ist. Mir läge sehr daran, daß das Christentum beide Elemente, den Monotheismus Israels als sein heiliges Erbe aber auch den vielzähligen Anliegen, die seelisch im Bilderreichtum der mythischen Religionen angeboten war, synthetisch zusammenbringt. Mir ist nicht recht, daß im römischen Katholizismus all die Bilder veräußerlicht bleiben, objektiv, magisch weiterverwaltet werden. Aber wenn man in dem Symbolreichtum eine Aufforderung sähe, in sich selber all das wiederzuentdecken, das man projektiv nach außen verlegt hat, dann könnte in all dem etwas Wertvolles liegen, an dem auch z. B. die protestantische Kirche sehr dabei gewinnen könnte. Es hat keinen Sinn, den Menschen zu verbieten, alles das soll es nicht geben oder zu sagen, es ist mittelalterlich und wir machen jetzt Schluß damit. Wichtig wäre mir die Leistung der Integration, all das liegt im Menschen und wartet darauf, im Bewußtsein zusammenzukommen, sich zu vereinheitlichen. Das im übrigen ist die Erwartung eigentlich, die vernünftige Buddhisten an den Hinduismus stellt und die Religionsführer im Hinduismus selber an ihre eigene Religion richten. Der Hinduismus hat nie behauptet, daß es viele Götter gibt, er hat gesagt, es gibt Menschen, für deren Bewußtseinszustand ist es nötig, an viele Götter zu glauben, und sie haben ein Recht, es zu tun. Andere brauchen es nicht mehr, und sie haben ein Recht, es seinzulassen. Der Weg zum läuternden Ganges-Fluß hat viele Treppen. Und je nach der Stufe, wo jemand steht, sieht er viele Götter, sieht er einen Gott, sieht er die Welt und Gott als eins und all das sind sehr berechtigte einander komplementäre Anschauungen. Aus der Perspektive eines Hindus ist es möglich, Christ zu sein ohne Widerspruch. So wie Mahatma Gandhî kurz vor seiner Ermordung auch gesagt hat, ich bin Hindu, Muslim und Christ und hat hinzugefügt, würde man die religiösen Quellen einer anderen Religion mit den Augen des Gläubigen lesen und verstehen, würde man bald begreifen, dass Gott jedem Volk zu seiner Zeit das sagt, was es nötig braucht zum Leben.

Hieber: Im Buddhismus gibt es keinen Gott. Buddhismus und Christentum lassen sich daher nicht vereinbaren.

Drewermann: Der strenge Buddhismus, der Theravadin-Buddhismus auf Ceylon, der dem historischen Ursprung am nächsten ist, braucht keinen Gott und keine Götter, aber in der Form hat der Buddhismus bezeichnenderweise sich nicht verbreitet. In Mahayana-, chinesischen, hinterindischen Spielarten des Buddhismus tauchen all die Götter wieder auf, von Vajrayana, vom diamantenen Fahrzeug, wollen wir gar nicht reden, da sind viele ursprüngliche Elemente des Bonpo mit aus tibetanischen Quellen eingeflossen, und es gibt wieder ein riesiges Ableitungssystem. Von den höchsten himmlischen Mächten bis herunter dann zum Menschen. Der Buddha selber ist gar nicht mehr der Buddha, sondern in einer ganzen Staffelung von Erscheinungen der Abglanz dessen, was z. B. der Buddha Avalokitesvara bereitet hat. Da ist wieder der Rückgriff auf Elemente der Religionspsychologie, die ein viel weiteres wollen als eine so rigorose Vereinigung. Was der Buddhismus zeigen kann, ist allerdings, wie man eine Religion seelisch leitet. Fast mit dem Aufklärer Epikur in Griechenland, 200 Jahre nach dem Buddha, hätte der weise Siddharta durchaus sagen können, was wir Götter nennen, sind nur die Angstzustände der Psyche. Wenn wir uns selber richtig verstehen, löst sich das alles von alleine auf. Der braucht nicht wie Elias die Ermordung der 400 Baalspriester und fremde Religionen zu bekämpfen und zu vernichten, er muss nicht heilige Kriege führen gegen die Ungläubigen. Der Buddhismus ist eine wunderbare Form, sich zu fragen: "Und was bedeutet dir jetzt deine Religion und wer bist du darin selber? Bist du überhaupt selber?" Das zu klären, wäre eine Sache, die der Religion Sinn schaffen würde. Meditation, Einheit, Güte, Weisheit, Verbundenheit im Mitleid mit allen leidenden Kreaturen, das sind wunderbare Elemente des Buddhismus, die wir im Christentum lernen müssen. Ganz unbedingt. Die Frage bleibt, ob der Buddhismus nicht auch nur eine Teilantwort ist, so wie alle gegenwärtigen Religionen, ob wir damit auskommen, uns soweit leer zu machen, daß es uns im Grunde gar nicht mehr gibt. Da scheint mir das Abendland, das Christentum, eine wesentliche Ergänzung auch zu haben mit dem Gedanken, daß Personalität und Liebe kein leerer Wahn sind. -


Ich danke Herrn  Markus Hieber sehr herzlich für die Bereitstellung des Interviews und für die freundliche Genehmigung, es hier veröffentlichen zu dürfen.



"Hat der Glaube Hoffnung"  -
 Von der Zukunft der Religion am Beginn des 21. Jahrhunderts

Eine Rezension von  Michael Schmidt-Salomon

Der streitbare Theologe Eugen Drewermann ist ein enorm produktiver Autor, der mittlerweile auf mehr als 60 Buchpublikationen zurückblicken kann. Das vorliegende Buch gehört sicherlich zu seinen Besten. Selten zuvor hat er die Schattenseiten der Religionen so klar hervorgehoben, ihre Funktion als Herrschafts- und Vertröstungsmittel in dieser Schärfe attackiert. "Kein Krieg ohne kirchlichen Beistand", schreibt Drewermann. Ob bei den Giftgasangriffen vor Verdun oder beim Abwurf der Atombombe auf Hiroshima - geistliche Würdenträger standen den Militärs stets hilfreich zur Seite. Drewermann kommentiert: "So nutzte die Religion dem Staatserhalt, so diente sie der Stählung und Stärkung des Gruppenegoismus der jeweiligen Kirchenklientel, so erwies Gott der Allmächtige seine Macht - und war doch bei alledem nichts weiter als ein ohnmächtiger Popanz, ein mißbrauchter Götze in den Händen spielender Pastöre, ein scheinbar unentbehrliches Dekorativum bestimmter Traditionsverbände. Zu spät der Aufruf der römischen Kirche im Jahre 2000 für eine Generalamnesie all ihrer Fehler und Verbrechen. Die Toten stehen nicht mehr auf, und die Überlebenden sind gewarnt."

Trotz der fundamentalen Kritik, die Drewermann an religiösen Institutionen (vor allem der katholischen Kirche) übt, setzt er große Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Glaubens, der ihm als eine notwendige Alternative zur zunehmenden Durchökonomisierung aller Lebensverhältnisse erscheint. Ein solcher zukunftsfähiger Glaube müsse - so legt er unter Berufung auf die Geschichte des Jeremia dar - von jeglichen Formen der Fremdbestimmung und Außenlenkung befreit werden, die Zukunft der Religion liege allein im persönlichen Erleben der Individuen - jenseits der dogmatischen, lebensverneinenden Vorgaben religiöser Institutionen. Um diese Position zu begründen, sucht Drewermann u.a. Rat bei fernöstlichen Religionen und Weisheitssystemen (Buddhismus, Hinduismus, Taoismus). Diese hätten, so Drewermann, in vielen Punkten einen reiferen Zugang zu Gott bzw. zum Leben gefunden als das institutionalisierte Christentum.

Den monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam empfiehlt Drewermann, an die Stelle einer "historisch-äußerlichen Interpretation" der jeweiligen Quellentexte eine "symbolisch-innerliche" zu setzen. Während die historische Interpretation auf eine Begründung von religiöser und militärischer Gewalt hinausliefe, könne die symbolische Deutung den "Heiligen Krieg" entschärfen und als liebevolle Aufforderung zum Kampf mit dem "Unglauben im eigenen Herzen" begreifen.

Drewermann gibt sich in der Folge sehr viel Mühe, Möglichkeiten und Ergebnisse einer solchen symbolischen Deutung aufzuzeigen. Es bleibt aber fraglich, ob die von ihm dargelegte Perspektive überzeugend ist. (Wie soll man es z.B. symbolisch und "liebevoll" deuten, daß Gott nach Dt 7,1.2.5.16 die Völker der "Hethiter, Girgasiter, Amoriter Kanaaniter, Persiter, Hewiter und Jebusiter ausrottet" und auch seinem eigenen, "auserwählten Volk" befiehlt, keinerlei Gnade zu üben?)

An dieser Stelle zeigt sich die entscheidende Schwäche des Buches. Um die explosiven, menschenverachtende Gehalte der religiösen Quellentexte zu entschärfen, geht Drewermann mit der Bibel, dem Koran und der Thora um, als habe er Grimms Märchen vor sich liegen. (Bekanntlich hat er auch diese bereits einer neopsychoanalytischen Interpretation unterzogen.) Hieran wäre freilich nichts auszusetzen, wenn Drewermann diesen kritischen Denkansatz, der letztlich auf eine radikale "Entzauberung" religiöser Glaubenssätze hinausläuft, konsequent zu Ende führen würde. Statt dessen aber verwendet er weiterhin religiöse Leerformeln, die rein sprachlich noch den Kontakt zu einer Tradition aufrechterhalten, die er inhaltlich längst verlassen hat. (Nicht umsonst hat die römische Kirche ihn vor zehn Jahren vom Priesteramt suspendiert.)

Fazit: Drewermanns Kritik an institutionalisierter Religion, Staat und Wirtschaft ist über weite Strecken klar, präzise und sprachlich geschliffen (auch wenn er z.B. die Herrschaftsfunktion östlicher Religionen völlig übersieht). Im Kontrast hierzu wirken seine Lösungsangebote merkwürdig nebulös und in sich widersprüchlich. (Man fühlt sich an einen Ausspruch Jean Amérys erinnert, der hinter der scheinbar progressiven "Theologie der Lehrformeln" eine "nicht eingestandene Selbstsäkularisierung des Christentums" vermutete.) Möglicherweise aber macht gerade dieser Bruch das Buch interessant: Die Diskrepanz zwischen der Erkenntnis des ungeheuren Bedrohungspotentials, das von den Religionen ausgeht, und der enormen Schwierigkeit, diesem Bedrohungspotential eine tragfähige, menschliche Alternative entgegenzusetzen, kam selten so deutlich zur Geltung wie in diesem Buch. -


Diese Rezension wurde von dem Philosophen und Schriftsteller  Michael Schmidt-Salomon  verfaßt und der  Rezensionswebsite  des Autors entnommen. Sehr herzlich danke ich Herrn Schmidt-Salomon für die freundliche Genehmigung, den Text an dieser Stelle veröffentlichen zu dürfen.

 

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Letzte Aktualisierung: 05.08.2013